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Bild: emsz / Jens Schulze

Eine Schulklasse begegnet Anne

Nachricht 09. Mai 2016
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Bild: M. Logemann

Neunte Klasse der Leintorschule in Nienburg besucht Anne-Frank-Ausstellung

In den vergangenen Wochen wurden jeden Tag mehrere Schulklassen und andere interessierte Gruppen von jugendlichen Peer Guides durch die Anne-Frank-Ausstellung in der St. Martinskirche in Nienburg geführt. Eine dieser Gruppen war eine 9. Klasse der Leintorschule.

Zunächst ist es noch still in der St. Martinskirche, nur die beiden jugendlichen Ausstellungsbegleiterinnen stehen wartend im Eingangsbereich. Henrike Stahlhut und Saskia Meyer haben schon einige Führungen durch die Anne-Frank-Ausstellung hinter sich. Spannend ist es trotzdem jedesmal aufs Neue: Werden die Schülerinnen und Schüler mitmachen? Werden sie sich auf das Thema einlassen? Diskutieren und sich einbringen? „Das weiß man nie vorher“, sagt Henrike Stahlhut. „Manche Gruppen machen total toll mit, und andere sagen kein Wort.“ „Ja, und das ist dann echt schwer“, ergänzt Saskia Meyer, „denn die Ausstellung beruht ja darauf, dass man miteinander ins Gespräch kommt.“

Dann wird es laut – die 9. Klasse der Leintorschule ist angekommen. Die Jugendlichen strömen in die Kirche. Henrike und Saskia begrüßen alle und teilen sie dann in zwei Gruppen ein. Die einen werden erst den geschichtlichen Teil der Ausstellung anschauen, während die anderen in den aktuellen Teil gehen. Nach einer dreiviertel Stunde wird getauscht.
Dann geht es los. „Wer entscheidet, wann ihr geboren werdet? Könnt ihr das beeinflussen? Ist euer Geschlecht veränderbar? Und eure Sprache? Eure Hautfarbe? Euer Name?“ Sofort ist die Gruppe mit Saskia im Gespräch. Erst sind es nur Einzelne, doch nach und nach beteiligen sich immer mehr Schülerinnen und Schüler an der Diskussion. „Könntest du anhand eines Bildes sagen, wie diese Person über Liebe und Freundschaft denkt und was ihre Ängste und Träume sind?“ Ein Film wird gezeigt. Freunde, Eltern und ein vollkommen Fremder reden über eine bestimmte Person. Wer sie ist, wie sie ist, was sie denkt und fühlt. Am Ende erzählt die Person selber, wie sie sich sieht. Manches ist gleich, vieles anders. „Wie sehen mich andere? Wie sehe ich mich selbst? Weiß ich wirklich, wer der andere ist?“ Langsam bewegt Saskia sich mit ihrer Gruppe auf das Thema „Gruppen, Vorurteile, Schubladendenken“ zu. „Wen schließe ich aus? Mit dem, was ich sage? Mit dem, was ich tue?“ Und die Schülerinnen und Schüler sind dabei. Denken mit, reden mit. Dieses Thema geht sie alle an.

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Bild: M. Logemann

Nach der Pause geht es dann in den historischen Teil der Ausstellung, welcher von der Geschichte Anne Franks handelt. Und auch hier werden die Jugendlichen sofort involviert, bekommen Aufgaben, werden auf Zusammenhänge hingewiesen. So zum Beispiel die Tatsache, dass die Geburtsstädte von allen Mitgliedern der Familie Frank in Deutschland liegen – sie waren Deutsche, die fliehen mussten. Deutsche Flüchtlinge. Bis auf den Vater wurden sie dennoch alle von den Nationalsozialisten ermordet. Weil die Juden zum Sündenbock gemacht wurden. „Warum sucht man sich einen Sündenbock?“, fragt Saskia die Gruppe. „Damit man selber nicht die Schuld tragen muss!“, antwortet ein Junge. „Genau!“, Saskia erzählt weiter. Von den immer schärfer werdenden Gesetzten gegen die Juden, von den Pogromen, von Kindertransporten, die manchmal die einzige Rettung, meistens aber den Tod im KZ bedeuteten. „Wie haben sich die Kinder auf diesem Bild wohl gefühlt?“ Erst Schweigen. Dann sagt jemand: „Sie hatten Angst.“

Familie Frank flüchtete nach Amsterdam. Lebte mit einer befreundeten Familie auf engstem Raum im Hinterhaus eines Lagers. Kein Laut durfte nach außen dringen. Tag um Tag, Woche um Woche – ein Leben in Stille und Angst. Und mittendrin Anne, eine Jugendliche wie die, die heute ihre Geschichte hören. Doch Anne wurde niemals älter. Ihre Familie wurde verraten und in Konzentrationslager gebracht. Mit 15 Jahren, kurz vor Kriegsende, starben Anne und ihre Schwester Margot im KZ Bergen-Belsen.

Mit Recht heißt die Ausstellung „Deine Anne“, denn sie schlägt eine Brücke von Anne und ihrer Zeit zu Jugendlichen heute. Sie regt zum Nachdenken an, über Identität und Gruppenzugehörigkeit, Ausgrenzung und menschliche Grausamkeit. Und sie stellt Fragen an Politik und Gesellschaft, vor allem aber an jeden einzelnen Besucher. Fragen, die manchmal erschreckend aktuell sind. So auch das Zitat von Andreé Geulen-Herscovici, einer belgischen Lehrerin, die dabei half, 1000 jüdische Kinder zu retten, und später sagte: „Ich fand es unerhört, dass es „Kategorien“ von Kindern gab. Ein Kind ist ein Kind, ein Mensch ist ein Mensch.“

Die Schülerinnen und Schüler der Leintorschule kehren nach zwei Stunden wieder in ihre Schule zurück. Sie haben sich eingelassen – auf das Thema, auf die Fragen, auf die Geschichte. Saskia und Henrike sind zufrieden. Doch es bleibt nicht viel Zeit zum Reden – die nächste Klasse steht bereits vor der Tür und wartet darauf, Anne zu begegnen.